There is a crack in everything!
Gut vs. Böse | Autor: Marcus Lärz | 08.01.2022
Der wahre Herr der Fliegen
Im Jahr 2021 bin ich auf einen Artikel im The Guardian aufmerksam geworden, der mich seitdem beschäftigt. Rutger Bregman geht in seinem Artikel The real Lord of the Flies der Frage nach, ob denn der Mensch nun im Grunde gut oder böse sei. Er bezieht sich hier vor allem auf den Roman Der Herr der Fliegen von William Golding. Diesen habe ich über die zurückliegenden Feiertage regelrecht verschlungen.
Die Kurzversion: Ein paar englische Schüler überleben einen Flugzeugabsturz auf einer einsamen Insel. Zu Beginn ist alles ein großes Abenteuer für die Jungen. Doch schon bald ziehen Spannungen auf und der Streit (um Macht) eskaliert.
Golding lässt in seinem Roman das Böse triumphieren. Man könnte sagen 1:0. Bregman widerspricht und hat in dem oben zitierten Artikel eine Tatsachengeschichte recherchiert, die darauf hoffen lässt, dass der Mensch im Grunde gut sein kann. Vielleicht 1:1. Bregman hat dem Thema selbst ein eigenes Buch gewidmet, Im Grunde gut – Eine neue Geschichte der Menschheit. Bestellt ist es schon und ich bin gespannt auf die Lektüre. Wie dem auch sei, man könnte fast sagen, ich bin seitdem auf einer spannenden Forschungsreise und irgendwie im Feld unterwegs. Und wie das manchmal so ist, liefert das Universum Anregungen und unterstützt.
Der Sturm auf das Kapitol am 6. Januar 2021 (J6)
Am 6. Januar hat sich der Sturm auf das US-Kapitol in Washington D.C. zum ersten Mal gejährt. Wie im vorigen Jahr lassen mich die Bilder, Videos und Kommentare dazu auch heute fassungslos zurück. Es gibt in der arte Mediathek eine Dokumentation zu den Ereignissen, die ich hierzu empfehlen kann. Der Sturm aufs Kapitol – Ein amerikanisches Trauma
Am 6. Januar 2021 heizt der scheidende US Präsident Donald J. Trump auf einer Kundgebung in Washington D.C. die Massen zum Sturm auf das Kapitol an. Er würde gemeinsam mit ihnen zum Kapitol ziehen, sobald sein Vize Mike Pence, die US Präsidentschaftswahl annulliert hätte. So lange wollte scheinbar niemand warten oder es glaubte einfach niemand daran. Wütend, zornig und von Trump angestachelt setzte sich die Menge auch ohne ihr Oberhaupt in Bewegung. Die Wut über die vermeintlich geklaute Wahl, ein Gemeinschaftsgefühl Wir gegen Die, eine gehörige Brise Patriotismus, ein Gefühl von Stärke und Macht in der sich nun laut grölend in Bewegung setzenden Menschenmenge, löste kaum für möglich gehaltene Ereignisse aus. Die Menschen schienen, an eine größere Sache glaubend, überzeugt und legitimiert zu sein. Sie hielten ihre Sache für das Richtige. Der Sturm auf das Kapitol begann.
Tumulte, Gerangel, Belagerungen – all das ist dokumentiert und festgehalten im oben verlinkten Video.
Eine Szene hat mich dabei ganz besonders bewegt. Ein Polizist, Michael Fanone, der eigentlich nicht im Dienst war, eilte, nach dem er über Funk von der Situation rund um das Kapitol erfuhr, seinen Kolleginnen und Kollegen dort zu Hilfe. Gemeinsam versuchten sie, Minute um Minute und Stunde um Stunde, das Kapitol und vielmehr die darin befindlichen Menschen (Abgeordnete sollen ja auch Menschen sein) zu schützen. Die Stimmung wurde immer aufgeheizter. Die Eskalationsspirale nahm so richtig Fahrt auf. Paradoxerweise wurde jede Form der Eskalation, jede Grenzüberschreitung von dem wütenden Mob selbst gefilmt und dokumentiert. In völliger Überzeugung, gepaart mit Allmachtsphantasien wurde alles live und in Echtzeit in den sozialen Medien geteilt.
Eine gewaltbereite Gruppe vor einem Eingang zum Kapitol, bekommt Polizist Fanone zu greifen und zieht ihn raus in die johlende Menge. Todesangst scheint mir das treffendste Gefühl zu sein und kommt mir als erstes in den Sinn. Was muss dieser Mann an Angst ausgehalten haben? Wer die Überzeugung in den Augen der wütenden Menschen vor dem Kapitol sieht, befürchtet das Schlimmste.
Und dann berichtet Polizist Fanone Folgendes…
„[…] Ich schrie, ich habe Kinder. Mehrere Leute fingen an mich einzukreisen und versuchten mich etwas zu schützen. Sie kämpften tatsächlich mit anderen aus der Menge, die mich weiter angriffen. Als nächstes erinnere ich mich an jemand der fragte, in welche Richtung ich will. Ich sagte, zurück nach drinnen. Danach war ich bewusstlos. […]“ (Polizist Michael Fanone im Video 31:45 - 33:00 Min.)
Da ist er, der Silberstreif am Horizont, (m)ein Funken Hoffnung in dunklen Tagen. Ich habe, als ich die Geschichte das erste Mal sah, nicht daran gedacht, dass das „gut“ ausgehen kann. Und doch gab es in diesem vor Wut schäumenden und hasserfüllten Gerangel, Menschen, die Schlimmeres verhindert haben. Die sich in größter Not für ein wehrloses Opfer eingesetzt haben. All die schlimmen Ereignisse, der Horror, der sich dort abgespielt hat, zeigen auch eine andere, eine Hoffnung machende Seite der Menschen. Sich füreinander einsetzen. Sich für andere einsetzen. Und hier zeigt er sich, der Riss, die Bruchstelle in der für undurchdringlich gehaltenen Kruste von Hass und Zerstörung. There is a crack in everything…
Leonard Cohen hat es längst gewusst
Es gibt da ein Lied von Leonard Cohen mit dem Titel Anthem. Ein großartiger Song, in dem dieser weise Mann, in seiner unnachahmlichen Art und mit seiner bewegenden Stimme genau diesen Riss, diesen winzigen Spalt besingt, den es braucht, um das Licht eindringen zu lassen und die Dunkelheit zu erhellen.
Ring the bells that still can ring
Forget your perfect offering
There is a crack, a crack in everything
That's how the light gets in
An dieser Stelle würde ich dann tatsächlich sagen, dass Gute geht 2:1 in Führung. Ich bin auf jeden Fall sehr gespannt, was mir zu diesem Thema im Jahr 2022 alles begegnen wird. Dann mal auf ein lichtdurchfluftetes Jahr 2022. Und hört euch den Song an.
Bis bald…