Dualität typischer Konfliktrollen 

 Konflikte | Rollen | Autor: Marcus Lärz | 14.12.2021 

Vor einiger Zeit endete in Erfurt die diesjährige Bundesgartenschau (BuGa). An 171 Tagen konnten die Besucher allerlei heimische und exotische Pflanzen bestaunen, eintauchen in ein Meer aus Farben oder ganz einfach auf dem ega-Gelände in Erfurt gemeinsame Zeit verbringen. Auch ich habe es an einem wunderschönen Herbsttag Anfang Oktober nach Erfurt geschafft und einen Tag mit der Familie auf der ega verweilt. Neben den vielen visuellen Eindrücken aufgrund der Pflanzenpracht sind mir vor allem zwei Dinge hängen geblieben: Der menschliche Zwiespalt im Umgang mit der Natur ist sehr offenkundig geworden. Das wiederum brachte mich zu dem Gedanken: Auch in Konfliktsituationen erlebe ich immer wieder einen Zwiespalt, einen Dualismus in den vermeintlich typischen Rollen, wie Täter, Opfer oder Retter.

Wir Menschen im Umgang mit der Natur 

Was haben wir im Jahr 2021 nicht alles für (Natur-) Katastrophen erlebt und bezeugt? Da war die Flutkatastrophe im Ahrtal Mitte Juli mit 134 Toten und fünfmal so vielen Verletzten. Große Gebiete in Südeuropa sind in diesem Jahr großflächigen Waldbränden zum Opfer gefallen. In Griechenland, Italien, Frankreich, Türkei und Spanien wüteten die Feuer und vernichteten riesige natürliche Lebensräume. In Sibirien im östlichsten Teil Russlands wüten ununterbrochen seit 2019 Waldbrände und hinterlassen eine Umgebung der Zerstörung. Das alles passiert in Deutschland, Europa und vielen Teilen der Erde – immer häufiger. 


Worum es mir an dieser Stelle geht? Wie kann es uns Menschen immer wieder gelingen, kleine Oasen zu schaffen, die uns einladen, genauer hinzuschauen, zu verweilen und zu bestaunen? In diesen Augenblicken und an diesen Orten ist sie zu erkennen und zu spüren, die Liebe zur Natur, die Faszination für alles Lebendige. Und im Angesicht dessen frage ich mich auch, wie es uns Menschen passieren kann, dass wir im globalen Maßstab, so derart wegschauen, dass wir als stumpf und desinteressiert gelten könnten? Hingabe und Faszination auf der einen Seite und Ignoranz und Gleichgültigkeit auf der anderen Seite. Dieser Zwiespalt, dieser Dualismus begegnet uns sehr häufig im Leben und natürlich auch in unseren kleinen und großen Konfliktsituationen. 

Das Drama-Dreieck nach Stephen Karpman

Diese Gegensätzlichkeit, dieses Spiel zwischen Licht und Schatten entfaltet sich in Konfliktsituationen sehr dynamisch. Ein spannendes Modell für zwischenmenschliche Interaktion ist das sog. Drama-Dreieck von Stephen Karpman. Es hat seinen Ursprung in der Transaktionsanalyse und wurde erstmals Ende der 1960er Jahre von Karpman selbst erwähnt und vorgestellt. 

Karpman erkannte sehr typische und immer wiederkehrende Rollen in (Konflikt-) Situationen zwischenmenschlicher Interaktion. Diese Rollen stehen in Beziehung zueinander. Das Beziehungsgeflecht ist dabei nicht starr, sondern dynamisch und es kommt vor, dass die Rolleninhaber ihre jeweiligen Rollen im Verlauf der Interaktion bzw. der Eskalation wechseln.

Aber der Reihe nach. Die drei typischen Rollen im sog. Drama-Dreieck sind folgende: Es gibt den Täter (Verfolger/ Verursacher), das Opfer und den sog. Retter. Die Rollen sind per se geschlechterunspezifisch.

Exkurs: Eine Geschichte aus dem Alltag

 

Stellen Sie sich einmal folgendes vor…


In einem beliebigen Büro in Deutschland (oder sonst wo auf der Welt) spielt sich Montagmorgen diese Szene ab.:

Frau Müller betritt die gemeinsame Teeküche der Abteilung, um sich einen frischen Kaffee zuzubereiten. Sie räumt dazu den Geschirrspüler aus, um an eine saubere Tasse zu kommen, verteilt das restliche Geschirr in den Schränken und in der Zwischenzeit ist auch das heiße Wasser im Wasserkocher fertig. Just in diesem Moment betritt Herr Sonntag die Teeküche. Wie immer wirkt er in Eile und etwas abgehetzt. Er will eigentlich nur schnell seinen Kaffeebecher abstellen und räumt diesen, gemeinsam mit einer benutzten Obstschüssel in die Spüle. 

„Du glaubst es nicht!“, entfährt es Frau Müller und zugleich folgen weitere Flüche und Verwünschungen. „Das kann doch nicht wahr sein! Immer wieder räume ich hier hinter dir her und nie schafft es auch nur ein einziger, sein Geschirr in den Spüler zu räumen. Das ist der reinste Kindergarten. Wirst du denn nie erwachsen? Ich kann mir nicht vorstellen, dass du zuhause damit durchkommst.“

Herr Sonntag fühlt sich natürlich peinlich ertappt, auch wenn ihm die Formulierungen „Kindergarten“ und „Zuhause damit durchkommen“ viel zu weit gehen. Es handelt sich hier doch schließlich nur um einen kleinen Kaffeebecher, der halt nicht in der Spülmaschine, sondern vorerst in der Spüle gelandet ist.

Wie dem auch sei. In der Zwischenzeit ist Frau Schmidt, die Teamleiterin, auch in der Teeküche gelandet und hat den Gefühlsausbruch von Frau Müller mitbekommen. Ebenfalls überrascht aufgrund der Heftigkeit der Reaktion, nimmt sie sogleich Herrn Sonntag in Schutz: „Aber Frau Müller, so eine Aufregung gleich zu Wochenbeginn. Das ist doch bestimmt keine böse Absicht gewesen von Herrn Sonntag. Eigentlich sind doch alle stets auf Ordnung bedacht. Und wissen Sie Frau Müller, war es nicht im letzten Monat auch Ihr Joghurt, der im Kühlschrank bald Beine bekommen hätte. Wenn Sie verstehen, was ich meine?“


Der nette Herr Sonntag unternimmt noch einen Versuch, die Situation zu retten. „Frau Schmidt, jetzt holen Sie aber weit aus. Eigentlich hat Frau Müller ja Recht. Bis auf die Wortwahl, kann ich ihr Verhalten ja nachvollziehen. Im Prinzip geht es doch darum, die Gemeinschaftsküche sauber zu halten. Die blöde Tasse hätte ich auch gleich einräumen können. Und die Geschichte mit dem Jogurt gehört ja nun weiß Gott nicht hier hin.“

Frau Schmidt verdreht kurz die Augen und verlässt den Raum mit den Worten: „Na, wenn das so ist, ist ja alles geklärt…!“

Später am Tag treffen sich Frau Schmidt und Herr Sonntag noch einmal auf dem Gang. Frau Schmidt raunt dann kurz angebunden zu Herrn Sonntag: „Na, Ihnen werde ich nochmal helfen, wenn Sie wieder die Launen unserer Frau Müller ertragen müssen. Das können sie beide zukünftig ganz ohne meine Unterstützung ausmachen.“


Der Weg in eine harmonische Woche scheint vorgezeichnet und das Drama nimmt seinen Lauf.

Die typischen Rollenzuschreibungen

Diese kleine Szenerie kennen wir wahrscheinlich alle in ganz unterschiedlicher Ausprägung. Sie findet in den hiesigen Büros statt, in den Kinderzimmern dieser Welt und in sämtlichen Vereinen, in denen wir uns engagieren. Weniger schön bis intensiv und anstrengend, wird das Drama erlebt, wenn wir direkt eine der drei Rollen bedienen oder in ihnen gefangen sind. Mit etwas Abstand hat eine solche „Aufführung“ dann aber auch viel Lehrreiches zu bieten.

Der Täter

Da ist zum einen der Täter. In unserem trivialen Fallbeispiel fasst sich Frau Müller ein Herz und weist recht energisch auf einen für sie sehr nervigen Zustand hin. (Auf einer Eskalationsskala von 0 – 10, war das gerade mal eine 1,5 in Sachen Heftigkeit.) Klar ist, der Täter/ die Täterin holt (verbal) aus, er/ sie beschuldigt, verletzt, greift an und weist in die Schranken. In die Täterrolle zu gehen, bedeutet zu provozieren, zu fordern, einzunehmen, zu ergreifen. Macht und Dominanz wohnen ihr inne.

Das Opfer

Gibt es Täterschaft ohne Opfer? Da wo ein Täter Grenzen überschreitet und sich nimmt oder für sich einfordert, da gibt es Opfer. Diese werden angegriffen, beschuldigt, überrumpelt, gedemütigt, bloßgestellt und verletzt. Opfer sind an erster Stelle einmal schutzbedürftig. Oft sehen sie sich unvorbereitet einem Tsunami ausgeliefert und sind in der Situation an sich überfordert. Ich meine, können wir aufgrund einer fehlplatzierten Kaffeetasse, am Montagmorgen gleich so in die Schranken gewiesen werden. Was soll das? Und dabei ist unser Beispiel ja fast erbärmlich ungeeignet dafür, die wahre Tragweite von Opferrollen auch nur im Ansatz zu benennen. Wir werden das an geeigneter Stelle entsprechend vertiefen.

Der Retter

Dann ist da natürlich noch der Retter oder die Retterin auf seinem/ ihrem weißen Schimmel. Nicht ganz so melodramatisch und dennoch immer wieder präsent in Konfliktsituationen sind Menschen in ihren Retterrollen. In unserem Beispiel ist es die Teamleiterin, die mehr oder weniger zufällig in die Situation kommt und versucht dem vermeintlichen Opfer (Herrn Sonntag) beizustehen, in dem sie zumindest dem Täter klar macht, man/ frau kann hier nicht schalten und walten, wie man/ frau will. Der Retter greift ein und bietet dem Opfer das, was es am Ehesten braucht, nämlich Schutz. Retter helfen, sie schützen, verhindern Schlimmeres, greifen ein, wenn die Masse schweigt oder erstarrt ist. Retter tun also was zu tun ist, sie retten uns aus unseren kleinen und großen Krisen. Sie reagieren und unterstützen, wenn wir der Ohnmacht nahe oder ihr gar schon verfallen sind.

 

Das alles sind schon sehr schubladenhafte Gedankengänge und sehr einseitig gefärbte Rollenzuschreibungen. Aber hey, nehmt euch die Zeit und reflektiert mal die letzten Konfliktsituationen in eurem Umfeld. 

Frage 1: Gab es da diese typischen Rollen?

Frage 2: Haben Personen im Laufe des Konflikts verschiedene Rollen innegehabt?

Die Dualität in den Rollen

Gerade in Konfliktsituationen neigen wir dazu die Realität in ihrer Komplexität zu reduzieren. Das ist das Ticket zum Schubladendenken, zur Schwarz-Weiß-Malerei. 

„Ich bin der Gute und der da drüben der Böse.“ „Du bist immer der, der anfängt zu provozieren.“ „Sobald es heikel wird, verziehst du dich doch in deine Opferrolle.“ „Du spielst dich immer auf, als müsstest du die ganze Welt retten.“

Diese und andere Formulieren dienen beispielhaft der Verdeutlichung des ganzen Dramas rund um diese Rollen. Wenn wir uns aber aufmachen, zu erkunden, was jenseits dieser Stereotype zu entdecken ist, dann verändern wir Perspektiven. Wir arbeiten also daran, der oben erwähnten Komplexitätsreduktion entgegenzuwirken. Dann mal auf…

Der Täter

Der Täter ist nun mal nicht immer ausschließlich der Fiesling, voller ungeheuerlicher Gemeinheiten. Der Täter vermag in festgefahrenen Situationen derjenige sein, der den berühmten Finger in die Wunde legt. Er spricht Themen an, die anderen zu gefährlich sind. Er provoziert tatsächlich, vielleicht zum Wohle einer wirksamen Veränderung. Wenn lähmende Erschlaffung droht, erhebt er sich. Schmerzhaft wird es immer dann, wenn Grenzen missachtet werden. Kannst Du dir eine Welt ohne Täter vorstellen? Was für eine Harmoniebubble würde uns erwarten? Was wäre dann wohl möglich und was eben auch nicht mehr? Täter sein, bedeutet zu (be-) wirken.

Das Opfer

Vorneweg: Opfer sind zunächst einmal schutzbedürftig und gehören somit aus der Schusslinie. Hier ist kein Raum für Taschenpsychologie und Verklärungen. Dennoch dürfen wir uns erlauben, zu überlegen, welche dunkle Seite auch im Opfersein steckt. Was lässt uns in der Rolle verweilen? Weshalb ziehen wir uns manchmal ganz bewusst dorthin zurück?

Neben Schmerz, Verletzlichkeit, Trauer, Angst, Wut und Ohnmacht bringt diese Rolle auch Aufmerksamkeit mit sich. Wenn ich sonst ziemlich alleine mit meinen Themen konfrontiert bin und die Welt mich mit Missachtung straft, dann kann die Opferrolle meine Strategie werden, um der Isolation zu entfliehen und zumindest hier Aufmerksamkeit zu bekommen. Die Menschen (be-) achten mich in meinem Schmerz, sie fühlen mit mir, ich erfahre Empathie. Das kann leicht zur Sucht werden und ich brauche mehr davon, immer wieder. Der Weg zur Bedürfnisbefriedigung scheint das Einnehmen der Opferrolle. Hier bekomme ich das, was mir sonst verwehrt bleibt. Wenn mir dann auch noch ungeliebte Aufgaben abgenommen werden, schlage ich zwei Fliegen mit einer Klappe. Wer in der Opferrolle verweilt und es sich heimisch macht, gibt Verantwortung ab – zumindest für das eigene Leben. 

Der Retter

Für gewöhnlich gebührt dem Retter all der Ruhm und die Aufmerksamkeit aufgrund seiner glorreichen Taten. Manchmal passiert es aber auch, dass der Retter sich ganz ungefragt einmischt. Dann nimmt er Eigenverantwortung ab und verhindert somit, dass das (vermeintliche) Opfer sich selbst aus einer Situation rettet. Er verhindert Wachstum und Erkenntnis. Führungskräfte tapsen gelegentlich in diese Falle, in dem sie um des lieben Friedens Willen, alle Konfrontationen in der Belegschaft sofort heilen und durch ihre Macht, Entscheidungen herbeiführen. Sie verhindern dann, dass sich die Konfliktparteien auch selbst mit Lösungsoptionen auseinandersetzen. Damit sichern sie vielleicht den Burgfrieden, verhindern gleichzeitig aber auch eine eigenständige Souveränität im Umgang mit Konflikten. Und ähnlich der Opferrolle, kann es passieren, dass ich mich im Glanze der Heldentaten Sonne und die mir entgegengebrachte Aufmerksamkeit immer mehr zum Ego-Antrieb (aus-) nutze.

Im Fazit

Die Dualität der Dinge ist fester Bestandteil im Leben. Da wo Licht ist, ist auch Schatten. Und umgekehrt. Gebt euch bitte nicht der Illusion hin, final aus diesem kosmischen Drama aussteigen zu können. Sorry, aber keine Chance. Was an dieser Stelle jedoch helfen kann, ist ein Bewusstsein für diese Dynamiken.

Im Buch Tough Love von Rainer Molzahn beschreibt Rainer diesen Bewusstwerdungsprozess der Täter-/ Opferdynamiken im Führungskontext durch zwei grundlegende Schritte. Es braucht Selbstkonfrontation durch Selbstreflexion im Innen und es braucht die Konfrontation im Außen durch Feedback. 

Es fängt damit an, dass du vermeintliche Muster in deinen Konfliktsituationen entdeckst. Was passiert dir immer und immer wieder? Welche Schleifen nimmst du fortwährend mit. In welchen Rollen nimmst du dich immer wieder wahr? Wann und wie wirkst du (als Täter) auf andere (ein) und in welchen Situationen wirst du eher bewirkt (als Opfer). Welche Knöpfe müssen bei dir gedrückt werden, damit du von Clark Kent zu Superman wirst (und damit zum Retter)?

Der Blick nach Innen ist dabei „nur“ ein Teil der Wahrheit. Mehr oder weniger sind es Vermutungen, die du darüber anstellst, wie du im Außen wirkst. Um hier mehr Klarheit zu erlangen, brauchst du die Unterstützung deiner Mitmenschen. Du bist gefordert dir Feedback einzuholen. Regelmäßig und immer wieder gilt es die blinden Flecken zu verkleinern und durch konstruktives Feedback zu wachsen. Wie nehmen dich deine Leute wahr? Welches Verhalten beobachten sie an dir? Welche Wirkung erzielst du mit deinen Taten/ Worten und so weiter? (Vielleicht ist das Thema Feedback ein gutes Thema für einen anderen Beitrag. Coming soon.)

Der call to action in diesem Blog lautet: Gehe in deine Systeme und beobachte. Fallen dir in deinen Konfliktsituationen bestimmte Rollen auf? Wann bist du in welcher Rolle unterwegs? Vielleicht findest du Zeit und Muße, um dir ein paar Gedanken zu notieren. Vielleicht begibst du dich auch auf eine kleine Heldenreise und bittest deine Leute um Feedback. 

Hab Mut und auf bald…